Vom Baum der Erkenntnis essen
Michael Seibel • Was
Ethik leisten soll • Kann man traumatische Erfahrung übersetzen? - das Böse, Teil 2 (Last Update: 17.11.2017)
Von den verbotenen Früchten des Baums der Erkenntnis zu essen, sollte einmal den Sünder befähigen, gut und böse sicher zu unterscheiden. Die alttestamentarische Geschichte ist nicht ohne Rätsel. Zwei Fragen liegen übereinander. Die obere verdeckt die darunterliegende. Die oben liegende lautet: Was ist eigentlich so schlimm daran, vom Baum der Erkenntnis zu essen, wenn anders man nicht weiß, was gut und was böse ist?
Die darunter liegende Frage: Wie kommt man eigentlich darauf, sich ausgerechnet die Menschen als Lebewesen vorzustellen, die ursprünglich kein Unterscheidungsvermögen für ihr Verhalten in Gemeinschaft mitbringen? Kein in Gemeinschaften lebendes Tier würde ohne geeignete Formen des Umgangs mit seinen Artgenossen lange überleben. Ausgerechnet beim Menschen soll das anders sein und ist es doch – am Evolutionserfolg des Menschen gemessen – offensichtlich nicht gewesen. Als die Schrift erfunden wurde, lag die erbbiologische Trennung der Hominiden vom Schimpansen bereits 7,5 Mio. Jahren zurück. Der Mensch wußte also schon eine ganze Weile, wie er sich zu benehmen hatte, um evolutionär erfolgreich zu sein, bevor er in den Apfel biss. Was lernt man also eigentlich, wenn man vom Baum der Erkenntnis ißt? Welche Modifikation soll eine Moral, die auf den offenbar gar nicht so selbstverständlichen Unterschied von gut und böse aufsetzt, eigentlich leisten?
Was Ethik leisten soll
Uns fehlt jeder Hinweis darauf, dass ethische Reflexion zu irgendeiner Zeit unabhängig von Unheilserfahrung gewesen wäre. Das Gegenteil ist richtig: Ethik denkt gegen die Übel und das Grauen an, das dem Einzelnen in seinem Leben widerfährt. Ethik versucht, das Unheil des Einzelnen in Ordnung zu bringen. Bei Platon ist das die Ordnung der Polis. Bei Augustinus der Gottesstaat. Das Heil des Einzelnen ist, obwohl es um nichts anderes geht, keinesfalls auch automatisch höchster Wert. Höchster Wert ist vielmehr regelmäßig das, worin es gedanklich, sozial oder religiös in Ordnung kommt.
Dabei hält ethische Reflexion dem Evolutionserfolg des Menschen dessen Kontingenz entgegen, sie hält ihm entgegen, was er an sinnlosem Leid produziert, was Evolutionserfolg kostet, was er an Sinn, an der Differenz von Sein und Wert, ständig zerstört. Auf dieser Ebene sucht Ethik nach Gründen.
Kann man traumatische Erfahrung übersetzen?
Ich wüsste nicht, was verhindern könnte, dass sich Menschen über ihr Leid unmißverständlich verständigen könnten, erschiene dies nicht vor dem Hintergrund geschichtlich sehr verschiedener Kulturen. Von daher steht die kulturelle und deshalb auch schon allein die sprachliche Übersetzbarkeit des Ethischen in Geschichte und Gegenwart in Frage.
Die Allgemeinheit von Ethik bricht sich an der Vielfalt der Kulturen und Diskurse.
Martin Haspelmath vom Max Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie, Leipzig schätzt, dass es heute gegen 7.000 Sprachen auf der Welt gibt. Vor 10.000 Jahren mögen es 20.000 Sprachen gewesen sein. Mit zunehmender Globalisierung nimmt ihre Zahl ebenso ab wie die Zahl unterschiedlicher Kulturen. Selbst einfachste ethische Maximen, falls sie sich in all diese Sprachen übersetzen lassen, würden bei deren Sprechern aufgrund deren unterschiedlicher gesellschaftlicher Erfahrung und Tradition nicht auf unterschiedslose Zustimmung stoßen.
Bedeutet heute in unserer Kultur ‚Böse‘ nicht in etwa eine Zusammenfassung dessen, was das Recht als Bestandteile einer besonders verwerflichen vorsätzlichen Tötung zusammenfasst: Mordlust, sexuelle Motive, Habgier, Rachsucht, krasse Selbstsucht, Wut aus nichtigem Anlass, eventuell Eifersucht oder Blutrache? Wie steht es mit ganz unblutigem Steuerbetrug und mit der Verwaltungstätigkeit eines Eichmann am Holocaust, die Hannah Arendt das banale Böse nennt?
Gemeinplatz ist, dass es nicht das Böse gibt, sondern dass in verschiedenen Kulturen und Religionen ganz unterschiedlich bestimmt wird, was böse ist. Der Begriff Kultur versucht dabei immerhin noch, etwas Homogenes im Unterschiedenen zu umreißen, das Konsens in Sittenfragen erwarten läßt. Die realen Segmentierungen der Lebensstile unterlaufen diesen Versuch allerdings zunehmend. Aber selbst wenn es nur kulturell unterschiedliche Bestimmungen des Bösen gibt, heißt das nicht, dass irgendeine von ihnen sich selbst als relativ betrachtet. Das Böse wird nicht dadurch relativ, dass unterschiedlich bestimmt wird, was böse ist und was nicht.
Kasuistik wird im positiven Recht aufgezeichnet, das seinerseits den Unterschied gut/böse nicht macht, sondern den von recht und unrecht. Etwas anderes tritt hinzu, wenn darüber hinaus mit gut und böse argumentiert wird. Im Recht geht es regelmäßig um die Selbstbestimmung und zugleich Selbstbeschränkung des Souveräns. Wird hingegen von gut und böse Gebrauch gemacht, geht es um die Selbstbeschränkung des Einzelnen aus Gehorsam oder vernünftiger Einsicht und die Entgrenzung des Gesetzgebers. Der Begriff des Bösen ist von vorn herein zweischneidig. Durch kaum etwas anderes lässt sich Gewaltausübung wirksamer legitimieren und entgrenzen als durch die Pflicht, das Böse und den Bösen zu bekämpfen. Vor dem Gesetz sind im idealen Rechtsstaat alle Einzelnen gleich. Der Blick auf das Böse identifiziert den Bösen als fundamental ungleich.
Historisch ist zu unterscheiden, ob zwischen Kulturen strittig ist, was genau in den Katalog böser Taten gehört oder ob eine Kultur mit der Attributierung 'böse' selbst nichts anfangen kann.
So haben das Griechische und das Lateinische zur Bezeichnung der verschiedenen Arten des Üblen, des Bösen, des Schlechten, des Disfuktionalen, des schlecht Gemachten oder sonst wie Negativen den alles umfassenden Begriff: kakon beziehungsweise malum. Malum heißt also nicht automatisch moralisch böse. Wie malum zu übersetzen ist, welche von all den unterschiedlichen Bedeutungen die richtige ist, die das Deutsche mit (moralisch) böse, (teleologisch) schlecht, (emotional) schlimm oder (existentiell) übel bereitstellt, erschließt erst der Kontext.
So verwendeten die griechischen Epen den Begriff kakon nicht moralisch wie das christliche Abendland, selbst in Situationen nicht, wo er nach heutigen Maßstäben unverzichtbar erscheint.
Dass sich Achill durch elftägige Leichenschändung an Hektor rächt, wird nicht moralisch verurteilt. Achill wird lediglich um Mäßigung und Gnade ersucht. Im Eudämonismus eines Aristoteles meint he kakia, die Schlechtigkeit, ganz allgemein etwas Unzulängliches, Fehlerhaftes, etwas Gebrechliches, Ungesundes. Die schlechten menschlichen Handlungen sind zwar insofern schimpflich, als sie Leiden hervorrufen und das persönliche Ansehen mindern können, aber sie sind nicht lasterhaft oder sündhaft. Böse ist also die unzutreffendere Übersetzung als schlecht.
Die Umwertung von ausgelebter Aggressivität, von Wut, Neid und Rache als böse ist eine sehr spezifische Kulturleistung und keine anthropologische Konstante.
Und gerade weil es sich um eine Kulturleistung handelt, also um etwas Geschichtliches, Endliches, generell auch Abschaffbares, ist es durchaus nicht selbstverständlich, dass der Begriff des Bösen bis heute unverzichtbar ist, obwohl ständig mit ihm Schindluder getrieben wird. Es scheint, als sei die seinerzeit von Augustinus eingeführte Unterscheidung zwischen dem aus menschlich freiem Willen verursachten Übel, dem schuldhaft Bösen (malum morale) und dem über die Menschen hereinbrechenden Übel (malum physicum) bis heute triftig.
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